„Werde,der du bist!“ Individuation als Leitfaden für ein gesünderes Arbeitsleben
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Mich hat die Frage nach meiner Lebendigkeit bis ins Mark erschüttert. Eine einfache Frage die ohne Umwege zu existentiellen Überlegungen führt. Lebe ich mein Leben oder „passiert“ es? Gehe ich darin auf oder fließt es vorbei? Ist es vielleicht wie John Lennon in „Beautiful Boy“ singt:
„Life is what happens to you
While you're busy making other plans“
„Leben ist das, was passiert,
während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.“
Was soll das für ein Leben sein, in dem man sich nicht lebendig fühlt? Ich habe den Verdacht, es ist eines, indem man sich eines Tages fragen wird: „Wo sind all die Jahre geblieben?“
Wie können wir also lebendiger, vitaler, lebensfroher werden trotz oder gerade mit den anspruchsvollen Anforderungen, die Beruf und Privatleben an uns stellen? Was liegt in der Macht jeder/jedes Einzelnen, sich vom Joch der Fremdsteuerung und dem Schleier der Lethargie zu befreien? Wie kann jede*r von uns, eingebettet in individuelle Lebensrealitäten, an persönlicher Freiheit gewinnen und sich echt und authentisch fühlen?
Aufbauend auf dem Konzept der Individuation von Carl Gustav Jung (1875 – 1961, Schweizer Psychoanalytiker und Schüler Sigmund Freuds) möchte ich Dir einige Anregungen mitgeben, wie es gelingen kann.
Doch beginnen wir mit unserem beruflichen Kontext in industrialisierten Staaten und den Folgen für unsere psychische Gesundheit.
Was an Anpassungs- und Leistungsvermögen von Menschen in industrialisierten Gesellschaften gefordert wird, ist an der Grenze des Zumutbaren. Und die Ansprüche steigen weiter. Unaufhörlich.
Der demographische Wandel und der Fachkräftemangel verteilt die anstehenden Aufgaben auf immer weniger Schultern. Viele Leistungsträger werden bis zur totalen Erschöpfung belastet. Gleichzeitig beschleunigt die Digitalisierung den technologischen Wandel, der uns fortwährend mit neuen Abläufen, Strukturen und Softwarewerkzeugen beschäftigt. Und gerade jetzt wo diese Änderungen das Gefühl von Unsicherheit verstärkt, wird in vielen Branchen hybrides und remote Arbeiten zum Standard. Trotz der vielen Vorteile fördert es doch Einzelkämpfertum, erschwert die Integration neuer Mitarbeiter*innen, schwächt den sozialen Zusammenhalt und liefert eben nicht die Sicherheit, die viele so dringend notwendig hätten.
Überlagert wird diese sich beschleunigende Anforderungsspirale von uferloser, kafkaesk aufgeschwollener Bürokratie, die unternehmerisches Handeln, Kreativität und Risikobereitschaft im Keim erstickt.
Die Fortschritte durch Automatisierung, Erhöhung der Erwerbsquote von Frauen, verbesserten physischen Arbeitsschutz und mehr Bewusstsein für die psychische Gesundheit reichen bei weitem nicht aus. Auch wenn unsere enorme Anpassungsfähigkeit immer wieder ermöglicht für anstehende Probleme neue und kreative Lösungen zu finden, so sprechen die Zahlen zur psychischen Gesundheit in Österreich (und in anderen industrialisierten Ländern) eine eindeutige Sprache. Für viele sind die heutigen Anforderungen zu hoch und die zur Verfügung stehende Unterstützung zu gering. Drei aktuellen Fakten belegen meine Hypothese:
Einen gesünderen Umgang mit diesen hohen beruflichen Anforderungen und dem sich beschleunigenden Veränderungstempo zu finden, ist ein sowohl gesellschaftliches, politisches, rechtliches, unternehmerisches, organisatorisches und individuelles Thema.
Obwohl sich die strukturellen Probleme nicht auf individueller Ebene lösen lassen, so kann doch jede*r Einzelne für sich einen gesünderen Umgang mit den steigenden Anforderungen entwickeln.
Keinesfalls sind die anderen Stakeholder aus der Verantwortung entlassen. Ich möchte den Fokus aber bewusst auf die Frage legen: „Wie kann ich persönlich besser mit beruflichem Stress umgehen?“
Zur Beantwortung ist es sinnvoll sich anzusehen, wie wir Menschen Stress verarbeiten und wann Stress krank macht. Das Diathese-Stress-Modell liefert die Antworten in drei Kernaussagen.
Abbildung 1: Diathese-Stress-Modell: https://de.wikipedia.org/wiki/Diathese-Stress-Modell
Blacktc, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons
Kehren wir nochmals zu unserer Ausgangsfrage nach der individuellen Lebendigkeit zurück. Was hat dieses Gefühl der „Nicht-Lebendigkeit“, des Funktionierens, des „Rabotnik“-Daseins, mit Stressmanagement zu tun? Die Kernthese meines Artikels lautet, dass zwischen diesen beiden Elementen ein direkter Zusammenhang besteht:
Fehlende Lebendigkeit ist ein Zeichen für erhöhten dispositiven Stress und damit für eine reduzierte Stressresilienz.
Wie lässt sich diese These begründen? Das Individuationskonzept aus der Analytischen Psychologie nach Carl Gustav Jung hilft mir dabei.
Individuation meint echter, stimmiger mit sich selbst zu werden. Ausstehendes entwickeln, Ausgespartes integrieren und Überholtes abzulegen. (Kast, 2016)
Jungs Persönlichkeitstheorie beinhaltet drei Bestandteile, die für die Individuation eine wesentliche Rolle spielen1:
Erstens, unsere sozialen Masken. Man kann sie auch äußere Persönlichkeit oder Persona nennen. Damit ist jene Seite von uns angesprochen, die wir der Außenwelt zeigen möchten. Im antiken Griechenland wurde der Begriff der Persona auch für den „angenommenen Charakter“ und das „falsche Gesicht“ im Schauspiel verwendet. Die Persona ist unsere Sonnenseite. Hier finden sich unsere Ich-Ideale, entwickelt aus Vorgaben unserer Eltern, aus sozialen Normen und aus eigenem Anspruchsdenken. Nach Freuds Strukturmodell sind Anteile des Über-Ichs hier lokalisiert.
Zweitens, unser Schatten. Hier landet das, was wir lieber nicht zeigen möchten, was uns peinlich ist und wovor wir Angst haben. Frei nach C.G. Jung: „Das wovor wir Angst haben, landet im Schatten und das, was im Schatten liegt, macht uns Angst.“
Wir finden aber nicht nur das vermeintlich Verwerfliche im Schatten, sondern es tummeln sich dort auch schöpferische Kräfte, wirklichkeitsgetreue (ungefilterte) Wahrnehmungen und naturgegebene Reaktionen, unter anderem auch Triebreaktionen (Das, was Freud Teile unseres „Es“ nennen würde). Unser Schatten, dieser unbewusste Teil unserer Persönlichkeit, ist damit auch eine Quelle von Lebendigkeit und Vitalität.
Sich mit dem eigenen Schatten auseinanderzusetzen ist unangenehm und verzwickter als erwartet. Nehmen wir das Beispiel eines Führungskräftetrainings, in dem Teilnehmer nur allzu bereitwillig über Ihre Schattenseiten berichten. Die Parole lautet: „Zeige uns Deine Verletzlichkeit!“. Doch wird hier tatsächlich der eigene Schatten besprochen, oder haben wir uns für solche Situationen nicht schon längst Vorzeige-Schatten zugelegt? Eine Schatten-Maske, um den Anforderungen des Kurses Genüge zu tun, uns selbst zu beruhigen und uns nicht dem schmerzhaften Aufdeckungsprozess stellen zu müssen.
Wer aber an einer echten Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten interessiert ist, dem sei hier eine gute Spur verraten: Achte darauf, was Dich am Anderen substanziell empört. Was Dich am Anderen abstößt und aufregt. Welche Eigenschaften lassen in Dir Emotionen wie Hass und Ekel aufsteigen?
Das dritte Element aus Jungs Egokonzept finden wir zwischen Maske und Schatten. Es ist unser Wesenskern, unsere Ich-Essenz oder nach Jung unser „Ich-Bewusstsein“. Jenes, dass durch den Schleier der Maske scheint und die Instanz zur Integration von Schattenanteilen darstellt. Der Ort an dem unsere kognitiv-dominierten Über-Ich Masken und unsere somatisch-dominierten „Es“ Schatten gesamtheitlich im Denken, Fühlen und Wollen bewusst zusammengeführt werden.
Jungs Individuationsprozess bedarf einer Vergegenwärtigung, Akzeptanz und schlussendlich Integration der Schatten in unser bewusstes Leben. Gleichzeitig geht es auch um Abgrenzung von und Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rollen und Normen, Autoritäten und anderen kollektiven Vorgaben die uns von außen (auch wenn es intrapsychisch geleitet ist) Masken aufzwingen.
Durch diesen Prozess der Individuation erlangen wir Autonomie, Freiheit, das Gefühl „echt“ sein zu können und dürfen. Der Preis, den wir dafür „bezahlen“, ist ein Verlust an gefühlter Einzigartigkeit – die Realisation der narzisstischen Ich-Kränkung. Mit dem Fall der Maske und der Integration des Schattens führen sich auch persönliche narzisstische Wunschvorstellungen ad-absurdum – die Erkenntnis „ich bin auch nur ein Mensch der gesehen und geliebt werden möchte, genauso wie mein Gegenüber“ lässt keinen Raum für individuelle Grandiosität.
Da im Schatten aber auch Vitalität und Schöpfungskraft steckt, setzt die Bewusstwerdung dieser Anteile Energie frei, die zu mehr Lebendigkeit führt. Genau hier trifft sich Individuation und der Umgang mit beruflichem Stress.
Das Aufrechterhalten von Masken und das Wegdrücken von Schatten bindet Energie. Je extravaganter, farbvoller, glänzender unsere Maske und je dunkler, tiefer, und angstbesetzter unser Schatten, umso mehr Energie wird zur Erhaltung des Scheins aufgewendet.
Holen wir uns nochmals das Diathese-Stress-Modell in Erinnerung. Der dispositive Stress - der Grundpegel unseres Stresssystems - wird durch diese in Masken- und Schatten-Management gebundene Energie erhöht. Es reduziert sich der Abstand zwischen dispositiven Stress und der Stressschwelle. Der Spielraum für die Bewältigung von stressigen Erfahrungen wird kleiner.
Die Konsequenz? Schon kleinste Stressoren, die früher problemlos kompensiert werden konnten, führen zur Überschreitung der Krankheitsschwelle. Auf lange Sicht bleiben drei Optionen: Krankheit, Stress-Abstinenz oder Therapie. Krankheit durch Stresspegel, die wiederkehrend oder dauerhaft über der Stressschwelle liegen. Stress-Abstinenz durch Rückzug (z.B. Verringerung der Arbeitszeit), einer Reduktion des „In-der-Welt“ sein, einer Nicht-Ausschöpfung der eigenen Potentiale. Oder Therapie, die Auseinandersetzung mit den inzwischen fest verankerten und pathologischen Masken und Schatten und der damit fix gebundenen Energie.
Der Weg zur Integration des Schattens führt über die Anerkennung aller unserer Persönlichkeitsanteile. Wir müssen uns dem Verdrängten, dem was nicht sein darf, stellen. Der erste, durchaus verständliche Impuls seine Schattenseiten wegzudrücken, auszulöschen oder abzuspalten ist kontraproduktiv. Das Vorhaben, nur unsere Sonnenseite zu zeigen, ist zu kurz gedacht. Denn, unsere Masken und Schatten berauben uns unserer Authentizität, Freiheit und Lebendigkeit.
Wer beginnt, sich mit dem eigenen Selbst zu beschäftigen, wird schnell begreifen wie aufregend, sinnstiftend und auch befriedigend diese Entdeckungsreise sein kann. Pidnar, ein griechischer Dichter des 5. Jahrhunderts vor Christus, brachte die Essenz dieses Weges gekonnt in der „Zweiten Pythischen Ode“ auf den Punkt: „Werde, der Du bist.“ Ein inspirierendes Zitat, das wichtige Denker nach ihm aufgenommen und in neue Kontexte gestellt haben. Neben Carl Gustav Jung, der es als Leitspruch für sein Individuationskonzept nutzte, ist vor allem Friedrich Nietzsche (1844–1900) zu nennen. In den Worten Nitzsches: „Du sollst der werden, der Du bist!“
Die eigenen Masken zu entlarven, unsere individuellen Schatten zu akzeptieren und in den Wesenskern zu integrieren, ermöglicht echte Authentizität, die unsere Beziehungsqualität mit und zu anderen auf eine neue, höhere Ebene hebt. Wer all seine Anteile in die Beziehung mit anderen Menschen einbringen kann, wird mehr Resonanz erfahren. So wie eine Stimmgabel deren Zinken verhüllt sind, nicht frei schwingen und nur gedämpft resonieren können, so kann ein Mensch, dessen Energie dafür aufgeht, seine Masken aufrecht, und seine Schatten in Kontrolle zu halten, nur bedingt in Resonanz mit anderen gehen.
Wer sich seines eigenen Wesens bewusst wird und auf seine Qualitäten vertraut, wird überrascht sein, wieviel Lebensenergie, Zuversicht, Leichtigkeit und in Konsequenz Beziehungsqualität mit anderen, aber auch mit sich selbst, dadurch gewonnen wird.
„Was ist, darf sein,
und was sein darf, verändert sich.“
(Werner Bock, Psychotherapeut)
Kast, V. (2016). Der Schatten in uns. Patmos Verlag. Retrieved from https://www.perlego.com/book/1043428/der-schatten-in-uns-die-subversive-lebenskraft-pdf (Original work published 2016)